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Verwurzelung und Entwurzelung

Vom Nicaragua-Kanal hatte ich vor Programmausgabe der diesjährigen Berlinale und damit Perro noch kaum etwas gehört. Als ich mich kurz einlies, wurde mir klar: mit dieser Regisseurin brauche ich ein Interview. Über diesen Film möchte ich unbedingt sprechen. Es ist mein Glück, dass Lin in Berlin wohnt und deshalb für das ganze Festival anwesend ist. Am Mittwoch nach dem morgendlichen Screening in der Urania nimmt sie sich eine halbe Stunde Zeit für mich.

Freie Generation Reporter: Es ist ja die erste Vorstellung, die unter der Woche und vor Schulklassen lief - hat dich irgendeine Reaktion besonders überrascht oder gefreut?

Lin Sternal: Mich hat überrascht, dass grundsätzlich so eine gute Stimmung herrschte. Ich hatte das Gefühl, die Schüler waren sehr konzentriert, obwohl es ein so langsam erzählter Film ist und eher ungewohnt, nicht so schnell geschnitten. Auch für Erwachsene ist es ja ein anspruchsvoller Film, es werden nur sehr wenige Informationen gegeben, man muss sich viel selbst erarbeiten. Das ist die Art, wie ich Filme mache und wie ich es mag. Es hat mich aber überrascht, dass die Kinder so konzentriert waren und so gute Fragen gestellt haben.
Es war ja auch nicht direkt als Kinderfilm geplant. Ich wusste zwar von Anfang an, dass ich aus der Perspektive eines Kindes drehen möchte, aber er sollte jedes Publikum ansprechen und nicht nur Kinder. Deshalb war ich ein bisschen aufgeregt, wie dieses erste Screening vor Schulklassen laufen wird, die sind ja das schärfste Publikum. Aber es war toll, anhand der Fragen hat man gemerkt, was sie verstanden haben und was sie interessiert hat. Auch dass man durch die Berlinale überhaupt die Möglichkeit hat, anschließend ins Gespräch zu kommen.

FGR: Du meintest eben bereits, wie du zum Thema gekommen bist: du wolltest einen Dokumentarfilm über Menschen drehen, die noch nah an und mit der Natur leben, also indigene Völker. Am nächsten Tag hast du einen Artikel über den Nicaragua-Kanal gelesen und wusstest intuitiv, dass das dein Thema sein wird. Habt ihr denn in mehreren Dörfern bzw. Gemeinschaften angefragt oder wusstest du von Anfang an, als du Joshua getroffen hast, dass er es sein soll?

Lin: Mir wurde von dem Dorf erzählt, dass es das Dorf ist, in dem sie am meisten versuchen, an ihren Traditionen festzuhalten und die Sprache weiterzuvermitteln. Das wollte ich zeigen: dass sie versuchen, mit der modernen Außenwelt so wenig wie möglich zutun zu haben, aber am Ende eben doch durch den Kanal betroffen und vom äußeren Wandel bedroht sind. Als ich von dem Dorf hörte, wusste ich sofort, dass es das sein würde. Generell folge ich bei meiner Arbeit oft meiner Intuition, das hat bisher immer gut funktioniert.
Ich bin also dort hingefahren, habe mich in das Dorf und in die Menschen verliebt und als ich Joshua kennengelernt habe, wusste ich sofort, dass er es sein wird.
Während des Projektes habe ich mich natürlich immer gefragt, ob ich wirklich das Richtige tue, weil viel Gegenwind kam, eben weil er so ruhig ist und man das aus Dokumentarfilmen sonst nicht so kennt. Anders als andere Protagonisten ist Perro nicht so aufgedreht und mitreißend, man muss eher alles aus seiner Mimik lesen. Über die Sprache gibt er einem nicht so viel, weswegen man dann selbst aktiv werden muss.

FGR: Joshua war dann auch gar nicht kamerascheu?

Lin: Überhaupt nicht. Allerdings kann er sich auch gar nicht vorstellen, was das bedeutet. Ich habe versucht, ihm das zu erklären und er versteht natürlich, dass es ein Film wird, aber es gibt in seiner Stadt gar kein Kino. Ich habe ihm immer wieder Ausschnitte gezeigt, aber er hat sich auch gar nicht so sehr dafür interessiert, auch nicht für die Kamera - wir waren einfach immer mit dabei. Nur in der Schule waren ihm die ersten Tage etwas unangenehm, weil er nicht gerne im Rampenlicht steht, aber als ihm aufgefallen ist, wie toll die anderen Kinder das finden und auch selbst gefilmt werden wollen, fand er das auch ganz cool.

FGR: Beim Publikumsgespräch meintest du, Joshua konnte wegen fehlender Papiere nicht nach Berlin kommen. Vielleicht war das ja auch ganz gut so?

Lin: Er hat zwar den Link zum Film, hat sich bisher aber noch nicht dazu gemeldet, also hat er ihn vermutlich auch noch nicht gesehen. Am liebsten wäre ich dabei, wenn er ihn zum ersten Mal sieht - schreiben würde er ja nichts dazu und man müsste ihm wieder alles am Gesicht ablesen.
Ihn aber nach Deutschland zu holen… Ich habe viel darüber nachgedacht, ob wir es nicht doch irgendwie mit den Papieren hinkriegen. Für uns wäre es natürlich toll gewesen, ihn hier präsentieren zu können, und für die Zuschauer auch. Für ihn auf der anderen Seite? Er kommt in eine so andere Welt mit dem ganzen ”Glamour” des Festivals, großer Vorhang und so weiter. Das wäre vermutlich eine interessante Erfahrung für ihn, aber ihn dann einfach wieder zurückzuschicken, fühlt sich einfach nicht richtig an. Hätte er Papiere gehabt, hätte ich ihn natürlich gefragt und wenn er gewollt hätte, hätten wir das möglich gemacht, aber so hat sich die Frage eigentlich von selbst erledigt.

FGR: Es wird viel Englisch gesprochen - haben die das euretwegen gemacht oder sprechen sie wirklich unter sich Englisch?

Lin: Die sprechen tatsächlich Kreol, also Karibisches Englisch. Bei den Kindern ist der Akzent so groß, dass man es kaum versteht, aber die Oma spricht das - vermutlich auch für uns - deutlich klarer aus, sodass man den Eindruck hat, nur die Oma spreche Englisch, obwohl sie eigentlich alle Kreol sprechen.
Das ist damals durch die Kolonialisierung der Briten entstanden - ihre ursprüngliche Sprache, Rama, konnten, als wir da waren, nur noch 4 oder 5 Leute in dem Dorf sprechen, jetzt ist sie so gut wie tot. Am Anfang hat die Dorfälteste noch Rama unterrichtet, aber schon beim zweiten Mal Drehen hatte sich viel verändert und der Unterricht fand nicht mehr statt. Sonst hätte ich das natürlich auch gerne erzählt.

FGR: Danke, dass du den indigenen Völkern eine Stimme gibst. Man bekommt das zwar am Rande immer mit, aber erfährt oft nichts vom konkreten Unrecht, das ihnen zuteil wird.


Lin: Das Schlimme ist auch, dass sie eigentlich in einem autonomen Gebiet wohnen und die Regierung damit gar nichts zutun hat. Das wird aber nicht respektiert und die Enteignungen finden weiterhin statt. Momentan findet ein Ausverkauf des Landes an die Chinesen statt und irgendwann wird nichts mehr übrig sein.

FGR: Die Musikauswahl ist sehr speziell, es gibt nur Aufnahmen mit einer Handpan - wie bist du dazu gekommen?


Lin: Normalerweise arbeite ich gar nicht mit Musik, hatte aber schon das Gefühl, dass musikalische Elemente bei Perro passen würden. Als ich dann gerade im Schnitt war, war ich in meinem Kiez im Wedding spazieren und habe auf der Brücke jemanden auf der Handpan spielen hören. Mir war schon klar, dass es wenn dann etwas Ungewöhnliches sein sollte. Und als ich die Handpan gehört habe, fand ich das wahnsinnig berührend, sodass ich ihn angesprochen habe und sich das dann ergeben hat. Die Zusammenarbeit war auch ganz spannend - er hatte vorher nur Ideen notiert, aber kein ganzes Stück, und sich dann die Bilder angeschaut und beim Schauen des Films noch einiges verändert. Das hat auch super zu meiner intuitiven Arbeitsweise gepasst. Auch die Völker dort leben intuitiv statt rational, das sollte sich auch in der Musik wiederspiegeln.

FGR: Vor Ort wart ihr zu dritt, wie sah denn die Arbeitsteilung aus?


Lin: Als Regisseurin muss man sich, wenn man gerade keine Interviews gibt, immer fragen, was man überhaupt macht. Natürlich bespreche ich jede Szene bzw. alle Bilder vorab mit meinem Team. Mit Jule (Julia Hönemann, Kamerafrau) arbeite ich sowieso immer und wir können uns nur mit Blicken verständigen. Vorher hatte wir zum Beispiel einen klaren Fokus auf Füße festgelegt, um die Verwurzelung der Naturvölker darzustellen und schließlich Entwurzelung. Aber wenn wir dann gedreht haben, war es meine Aufgabe, so unauffällig wie möglich zu sein. Weil die Hütte so klein war, war ich dann teilweise sogar im Bild, obwohl ich versucht habe, mich zu verstecken. In dem Moment habe ich nichts zutun, sondern höre zu, beobachte, denke nach, plane die nächsten Schritte. Auch Joshua hat mich häufiger gefragt, was ich eigentlich mache. (lacht)
Teilweise habe ich dann auch den Set Runner gemacht, obwohl ich in der Szene genauso wichtig bin, um den Überblick zu behalten. Während des Drehs reden wir zwar fast gar nicht mit den Protagonisten und versuchen, trotz der großen Kamera so unauffällig wie möglich zu sein. Aber manchmal musste ich noch irgendetwas vorbereiten, weil wir produktionell vor Ort keine Unterstützung hatten. Dann muss noch jemand etwas holen oder absprechen, was dann immer ich war, weil ich eben nichts Offensichtliches zutun hatte. Zu 99% konnte ich aber am Set sein.

FGR: Hatte Joshua den Namen Perro (”Hund”) schon vorher?


Lin: Ja, das ist sein Spitzname. Den hat ihm seine Oma gegeben, weil er als Kind scheinbar sehr bissig war. Das fand ich sehr lustig, weil er so ein lieber, ruhiger Junge ist, das kann man sich kaum vorstellen. Ich hatte dann recht schnell den Gedanken, Perro auch zum Filmtitel zu machen, um eine andere Metaebene zu öffnen. Hunde haben dort keine Rechte, genau wie die indigenen Völker, und werden wie sie mit den Füßen getreten. Viele frustrierte und alkoholisierte Menschen - besonders Männer - lassen ihren Frust an den Hunden aus. Gewalt wird eben an die schwächeren weiter gegeben. Dadurch kriegen die Hunde viel ab, aber auch die indigene Bevölkerung, die in der Stadt wohnt. Sie haben ja auch nicht die Geldstrukturen und den Einfluss, der damit einhergeht.

FGR: Willst du dich denn mit deinem nächsten Film weiter im dokumentarischen Milieu bewegen oder ist etwas anderes geplant?


Lin: Ich habe tatsächlich lange überlegt, ob ich überhaupt weitermache. Der Dokumentarfilm, wie ich ihn mache, ist nicht sonderlich fernsehtauglich oder für die breite Masse, sondern sehr speziell. So arbeite ich am liebsten und das kann ich am besten, aber mit dieser Machart ist es schwierig, Gelder zu bekommen. Finanziell war es deshalb nicht so leicht. Wenn man jung ist, kann man natürlich auch Nebenjobs machen, aber mit einer Familie wird das irgendwann schwieriger. Mit der Berlinale bin ich jetzt aber wieder positiver gestimmt und habe auf jeden Fall Lust. Am liebsten würde ich etwas über die Schönheit und die Wunder des Lebens machen und dann einen essayistischen Experimentalfilm, etwas zwischen Esoterik und Exoterik.

FGR: Ist etwas für die Zukunft von Perro geplant? Sowohl in Deutschland als auch international.


Lin:
Leider noch nichts. Er ist als Kinodokumentarfilm konzipiert, es ist aber sehr schwierig, dafür einen Verleih zu finden. Die müssen schließlich auch ihre Tickets verkaufen, da ist ein Film schwierig, der weder ein richtiger Kinderfilm ist, noch ein kritischer Film über den Kanal, noch eine andere klare Betitelung hat. Deshalb ist das nicht so einfach, wir hoffen aber, noch einen Verleih für ihn zu finden oder ans Fernsehen zu verkaufen. Perro wurde nämlich ohne Fernsehgelder finanziert und das ist für einen Dokumentarfilm ungewöhnlich. Und auf Festivalzusagen hoffen wir auch, sodass für Perro noch eine Reise beginnen kann.

Ich drücke Lin ganz doll die Daumen dafür und bedanke mich herzlich für ihre Zeit nach dem bereits dritten Screening von Perro.
Es ist immer wieder unglaublich berührend, mit den Regisseur*innen zu sprechen, die ihre Filme bei Generation zeigen. Es sind höchst selten diejenigen mit großen Geldern, die sich um die Zukunft ihrer Filme keine Gedanken machen müssen, wie es oft im Wettbewerb der Fall ist. In 90% aller Fälle sind es Menschen, die ihr ganzes Herzblut in ihre Werke stecken, denen man ansieht, wie sehr sie für das Thema brennen, wie wichtig es ihnen ist, wie dankbar sie sind, hier zu sein. Lin ist dabei keine Ausnahme und ich freue mich wahnsinnig, dass unser Interview zustande gekommen ist.
02.03.2020, Johanna Gosten

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