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Zwischen Aufständen und Spabesuchen


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Hong Kong, der 28. Juli 2019. Schreie, Tränengas, Schüsse. Eins, Zwei, Rückzug von der Frontlinie, Vorstoßen. Wir befinden uns mitten in den Protesten und Aufständen Hong Kongs im letzten Sommer. Wir ziehen mit der Masse, verbergen uns hinter den Schutzschilden, sehen unsere Kameraden Kommandos schreien, in Bewegung bleiben, in Ohnmacht fallen, weggetragen werden. Alles ist chaotisch und angsteinflößend, aber dennoch organisiert und kontrolliert. 15 Minuten lang halte ich den Atem an, mein Herz rast und setzt gleichzeitig immer wieder aus.

Es ist bedrückend. Unglaublich bedrückend, einen Tag der Hong Kong Aufstände so nah zu erleben. In meinem urlaubsgeprägten Juli habe ich zwar am Rande von der Situation mitbekommen, mich jedoch leider nicht allzu sehr damit verpasst. Umso extremer ist es, am Anfang der Kurzfilmrolle 2 in diesen Moment geworfen zu werden.
Trotz der Kürze des Filmes kommt man direkt an. Die Kamera fügt sich nahtlos in die Gruppendynamik ein. Alle rundherum sind zu beschäftigt, sich vor einer laufenden Kamera zu scheuen, es gibt wichtigere Probleme. Es gibt einige wenige Signale, auf die sich die Gruppe verständigt hat. Alle kennen die Taktiken und auch als Zuschauer/in findet man sich bald ein. Ausschaltungen von Tränengas, Schutzschilde an der Frontlinie zur Verteidigung gegen die bald fallenden Schüsse - alles ein normaler Teil der Tagesordnung. Auch beim Drängen in die U-Bahn am Ende des Tages läuft alles kontrolliert ab. Ein Brutkasten für mehr als eine Massenpanik hält sich gerade so im Zaum.
Nur einen Tag lang begleiten wir die Aufständischen, doch es ist vollkommen ausreichend, um ein beklemmendes Bild der Revolution zu kriegen. Um erleichtert und dankbar zu sein, dass meine aufgewühlten Gedanken und Herzrasen vom hektischen Berlinalealltag stammen, nicht von Auseinandersetzungen mit der Polizei im Kampf um die eigene Zukunft. Mein persönlicher Favorit der 14+ Kurzfilme dieses Jahr.

Im Vergleich dazu Progresso Renaissance. 20 lange Minuten zieht sich es hin: Bilder von einer analogen Kamera, alles etwas verwackelt, schräge Musik, die im zu laut eingestellten CinemaxX wahnsinnig in den Ohren weh tut. Das Kino ist unruhig. Eine Handlung ist nicht zu erkennen, nicht einmal ein roter Faden oder eine Botschaft im Film. Wobei wir die drei Hauptdarsteller eigentlich begleiten, weiß vermutlich niemand im Publikum außer dem Filmteam. Ich kann nicht zum Q&A bleiben, um die unausweichliche Frage und die mir unklare Antwort abzuwarten, also werde ich es wohl nie erfahren.
Normalerweise würde ich kurz die Handlung zusammenfassen, allerdings fällt mir selbst das schwer. Nur dass die drei Jungs am Anfang ins Meer springen, später Fahrräder klauen und durch den Wald fahren, was auf einmal auf unerfindlichen Gründen gruselig erscheint, kann ich an dieser Stelle erzählen.

Direkt danach Hot Mother, deren 15 Minuten wie bei Comrades im Flug vergehen. Alles beginnt wie ein normaler Tag zwischen Mutter und Teenagertochter. Sie sind genervt vom Verhalten der jeweils anderen, machen sich gegenseitig Vorwürfe und wollen beide eigentlich nicht wirklich gemeinsam im Spa sein. Doch ihre im Vergleich fast banalen Probleme werden sehr bald von Lebensbedrohung verdrängt. Wie schon bei Comrades schwankt mein Herz minutenlang zwischen Rasen und Aussetzen, ich bin fast froh, dass es vorbei ist - und würde ihn dennoch direkt nochmal sehen.

Die Kurzfilmrolle lohnt sich allein wegen Comrades zu sehr, um aufgrund von Progresso Renaissance darauf zu verzichten. Allerdings kann man sich auf 20 lange Minuten einstellen und sollte sich eventuell Ohrenstöpsel mitnehmen, um es etwas erträglicher zu machen. Der Rest der Rolle erzählt Geschichten über Abschied, Rückkehr, Selbstwahrnehmung und -darstellung und junger Liebe. Durchaus sehenswert, auch wenn mich Hot Mother und vor allem Comrades am meisten überzeugt haben.

25.02.2020, Johanna Gosten

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