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Schillernd für die Gleichberechtigung von transgender Menschen

Standing Ovations noch während des Abspanns. Das Publikum tobt. So eine starke Reaktion habe ich all die Jahre, die ich mittlerweile schon auf die Berlinale gehe, noch nicht erlebt. Wenn ich bei Meu Nome é Bagdá schon meinte, dass der Film den Nerv der Zeit trifft, so übertrifft Alice Junior dies noch. Eine Geschichte über ein transgender Mädchen auf der Berlinale in Berlin. Ein passenderes Publikum für die internationale Premiere kann vermutlich kaum gefunden werden.

Alice, gespielt von Anna Celestino Mota, ist YouTuberin in der brasilianischen Großstadt Recife. In ihren Videos spricht sie über die Hoffnung auf ihren ersten Kuss und thematisiert offen, dass sie transgender ist. Für ein neues Arbeitsprojekt muss der Vater für einige Monate in eine sehr ländliche und konservative Gegend im Innern des Landes ziehen. Da er alleinerziehend ist, muss auch Alice mit. Fernab von der Großstadt pflegen die Einwohner des Dorfes ihre konservativen, prüden Ansichten. Dass Alice hier in ihrer schrillen Art einiges Aufsehen erregen wird, ist vorprogrammiert.
Bereits der Establishing Shot zu Beginn, eine Flugaufnahme über die Stadt Recife, deutet an, dass es sich bei „Alice Júnior“ um eine sehr professionelle Produktion handelt. Es könnte auch ein Hollywood-Film sein. Der vielfältige Bezug auf Social Media wird geschickt durch Animationen gelöst. Ob die Likes auf Instagram oder die Bewunderung für andere Personen in Form von Scores: das junge Filmteam integriert zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten und schafft es dadurch völlig selbstverständlich, noch eine weitere Ebene hinzuzufügen, die die Handlung ergänzt. Poppige Musik mit sorgfältig ausgewählten Texten, immer im Bezug auf transgender Personen und ihren Stand in der Gesellschaft, unterstreicht die Handlung.

Die Charaktere sind exzentrisch und zum Teil aufs Herrlichste stereotypisiert, die Handlung ins Absurde gezogen. So ist der Job des Vaters beispielsweise, einen gewissen Tannenzapfen zu analysieren, um auf dessen Basis ein Parfum zu schaffen. Auch die verrückte Hippie-Naturfrau und erzkonservative katholische Schulleiterin, die noch nie ein iPad gesehen hat, dürfen nicht fehlen.
Dennoch werden all diese Überspitzungen auch wieder aufgelöst. Es sind eben nicht die gleichen Stereotypen wie sonst. Alices Vater beispielsweise ist ihr größter Fan und steht ihr immer zur Seite, die Hippie-Naturfrau stellt sich als eine der vernünftigsten Erwachsenen im Film heraus.

Alice Júnior gibt dem Publikum viel zu Lachen, zeigt jedoch zugleich auch auf, auf was für Probleme und Vorurteile transgender Personen in der konservativen brasilianischen Gesellschaft stoßen. Neben offenen Attacken bildet sich das auch in unterschwelligeren Dingen ab wie der Verwehrung Alices, auf das Mädchenklo zu gehen oder dass sie gezwungen wird, sich die Schuluniform für Jungs anzuziehen. Auch die Verweigerung sie bei ihrem Namen „Alice“ anzusprechen, sondern auf ihren ehemaligen männlichen Namen zu beharren, sendet ein klares Signal.
All dies muss sicherlich auch so überzogen und komisch dargestellt werden, da es sonst einfach nur zum Heulen wäre.

Alles in allem gibt es an Alice Júnior wirklich nichts auszusetzen. Der Film ist durchdacht, lustig, perfekt animiert und begeistert das Publikum. Genau das ist mit Sicherheit auch die ganz besondere Stärke dieses Films: Er schafft es, eine Mehrheit mitzureißen und eben so etwas wird gebraucht, um das Thema einer größeren Öffentlichkeit present zu machen. Ich persönlich hätte mir eine etwas intimere Betrachtungsweise gewünscht, aber diesen Anspruch hat Alice Júnior gar nicht. Und das ist auch gut so. Dafür sind dann andere Filme da.
Wer einen sehr lustigen und unterhaltsamen, aber zugleich auch gesellschaftskritischen Film sehen möchte, der an Hollywood erinnert, allerdings der brasilianischen Energie entspringt, ist bei Alice Júnior mit Sicherheit an der richtigen Adresse.

Weitere Screenings auf der Berlinale:
Sa. 29.02. 19:00 Uhr Cubix 8
So. 01.03. 17:00 Uhr Urania

© Renato Ogata & Gil Baroni
Samstag, 29.02.2020, Sarah Gosten

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