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Giving a voice to the voiceless

Schon bei Herausgabe des Berlinaleprogramms fragte ich mich, ob ich wirklich die richtige Person bin, eine Kritik zu diesem Film zu schreiben. Das frage ich mich auch immer noch. Da ich es nicht über mich gebracht habe, einen Hintergrundartikel zu diesem Thema zu schreiben, verwandle ich meine Kritik in einen Kommentar und kombiniere beides. Es ist ein Thema, das mir seit Jahren am Herzen liegt, das mich bei jeder Diskussion emotional an die Grenzen treibt und mich regelmäßig beim bloßen Gedanken daran zum Weinen bringt.

Das ändert sich auch bei Victor Kossakovskys Film Gunda nicht. Auch vom Ende der Berlinale bin ich emotional aufgeladen, aber die Tränen wären auch so geflossen. Mit wahnsinniger Ruhe und Einfühlsamkeit begegnen wir den drei meistgenutzten Tieren der westlichen Welt. Es beginnt mit Gunda, einer frischgebackenen Schweinemama. Liebevoll kümmert sie sich um ihre Ferkel, die alle übereinanderpurzeln und etwas trinken wollen. Wir befinden uns im Stall, ganz nah an der Familie dran und sind dabei, als die Kleinen zum ersten Mal das Licht der Welt erblicken. In schwarz-weiß ist es leicht, die Persönlichkeiten der Ferkelchen vom ersten Tag an zu erkennen. Alle sind sie Individuen und haben ihren Wunsch und Anspruch auf Leben. Für mich ist es schwierig mit anzuhören, wie die ”Aww”s durch das Publikum gehen. Heute morgen lagen bei den meisten vermutlich noch sechs Monate alte Babys auf dem Teller, befinden sich gerade im Bauch dieser Menschen und im Kopf wird keine Verbindung gezogen. Es ist einfach nur süß, die Ferkel zu beobachten. Spätestens jetzt fließen meine ersten Tränen.

Eine ganze Weile später sehen wir dabei zu, wie Hühner aus konventioneller Haltung zum ersten Mal das Tageslicht erblicken. Die Tür ihres Käfigs, in dem die Hühner dicht an dicht gedrängt sind, ist offen, doch es dauert lange, bis sich ein Huhn zum ersten Mal traut, einen Fuß ins Gras zu setzen. Es ist neu und ungewohnt, zu viel für die Hennen, die bisher nur in ihrem eigenen Dreck gelebt, sich gegenseitig das Gefieder ausgerissen und fürs Eierlegen das Äußerste gegeben haben. Sie sind für ihren ehemaligen ”Besitzer” nicht mehr nützlich und kämen zu dieser Zeit eigentlich zum Schlachter. Sie zählen zu den wenigen Glücklichen, die eine zweite Chance im Leben haben, die Gelegenheit, wirklich zu leben, in der Sonne zu sein, das Gras unter den Füßen zu spüren. Es ist herzzerreißend mit anzusehen, wie zerzaust die Hühner sind, wieviele Federn sie teilweise nur noch haben, wie vorsichtig sie sich bewegen und umsehen. Für sie ist es wie ein Traum, sie wissen nicht recht, was sie mit der unbekannten Umgebung anfangen sollen. Als sie nach Stunden der behutsamen Erkundung doch wieder auf einen Zaun stoßen, ist das Unverständnis erneut groß. Sie versuchen, hindurch zu kommen, doch finden ihrer Freiheit wieder Grenzen gesetzt.

Im letzten Drittel des Films wird eine Stalltür geöffnet und eine Herde Kühe springt heraus - wortwörtlich springt. Auch sie haben noch nie das Tageslicht gesehen, sie tollen im Gras umher und zeigen uns, wie sie sich verhalten würden, wenn sie nicht ihr ganzes Leben lang in ihren Gefängnissen eingesperrt wären. Wenn sie nicht dauerhaft an der Melkmaschine hängen würden, da sie per Vergewaltigung geschwängert werden und Babys kriegen, die ihnen direkt nach der Geburt weggenommen werden, um entweder in Fleisch verwandelt zu werden oder ebenfalls in Milchkühe. Kuhmilch ist schließlich für erwachsene Menschen gedacht, oder?
Die Kühe werden auf wundervolle und würdige Art und Weise porträtiert. Es sind Nahaufnahmen, die die Intelligenz der Tiere zeigen, das emotionale Verständnis, das wir ihnen nicht zutrauen. Die wenigsten Menschen haben sich Kühe einmal wirklich angeguckt. Manchmal sieht man sie auf der Weide, in den Bergen vielleicht auch mal ganz nah. Aber in Gunda wird ihre Persönlichkeit gezeigt, ihre Individualität, wie bei den kleinen Ferkeln.

Das Ende zu verraten wäre kein Spoiler. Wir alle wissen, was am Ende mit Tieren aus der Nutztierhaltung passiert. Meine Sorge war eher, dass diese Thematik ausgelassen werden könnte. Dass ein größtenteils glückliches Leben der Tiere, wie sie es zu 99.99% aller Fälle eindeutig nicht haben, dargestellt würde und die Zuschauer ohne Reflexion nach Hause gehen, bestätigt in der Annahme, dass es Nutztieren aber doch während ihres Lebens gut geht.
Obwohl es mich noch viel mehr zum Weinen bringt, erleichtert es mich, als die Thematik am Ende aufgegriffen wird. Passend zur langsamen Erzählweise des Filmes wird noch lange eingefangen, wie Gunda, die Hauptperson unseres Filmes, verzweifelt nach ihren Jungen sucht und lange nicht aufgibt nach ihnen zu rufen. Sie waren gerade einmal zwei Monate alt.

Zunächst irritierte mich die Wahl, diesen Film auf einem Hof zu drehen, auf dem es den Tieren scheinbar so gut geht. Wie bereits erwähnt dachte ich, dass die Zuschauer*innen deshalb ohne Reflexion den Saal verlassen könnten. Allerdings berührt Gunda durch diese Erzählweise auf eine ganz andere Art und Weise. Es gibt bereits viele Filme wie Earthlings und Dominion die auf die Missstände in der Tierhaltung hinweisen. Doch solche Dinge wollen viele aus der fleischessenden Bevölkerung nicht sehen. Die Augen werden verschlossen, Tiere als Objekte gesehen, immer wieder fällt die Ausrede, dass man doch aber selbst nur Biofleisch kauft. Mal abgesehen davon, dass es auch ”Biotieren” nicht viel besser geht als denen aus konventioneller Haltung, lenkt Gunda den Blick vielmehr auf die Frage, warum wir uns entschieden haben, ausgerechnet diese Tierarten zu Nutztieren zu erklären. Warum wir ihnen die Würde des Seins absprechen, warum es so viele Menschen nicht zu kümmern scheint, wenn sie ein totes Tier auf dem Teller haben, obwohl wir Fleisch nicht zum Überleben brauchen und es so viele Krankheiten, Unrecht auf dieser Welt, Wasserverbrauch und Treibhausgase verursacht. Es geht um die Frage, warum wir andere Erdbewohner töten, obwohl sie genauso Individuen sind wie wir, ebenfalls Familienstrukturen haben, sich gegenseitig lieben, leben wollen.

Gunda ist ein sehr langsamer Film ohne viel Handlung. Beobachtung ist hier das Stichwort. Und es passt so gut zu der Thematik des Wegschauens. Tagtäglich verschließen Milliarden von Menschen ihre Augen. Gunda bringt sie dazu, wenigstens 93 Minuten ihres Lebens zu sehen, wer täglich auf ihren Tellern landet.
Nichts wird durch Musik beschönigt oder unnötig dramatisch gemacht. Auch keine menschliche Interaktion gezeigt. Die Aufmerksamkeit liegt zu 100% auf diesen Tieren, wie es sonst unglaublich selten passiert.


In den 93 Minuten, die es dauert, Gunda zu schauen, werden weltweit über 26 Millionen Tiere getötet - Tierversuche, Zoos, Entertainment und Tierkämpfe nicht mit eingerechnet. Jährlich sind es über 150 Milliarden.
Ich hätte mir gewünscht, dass solche Zahlen oder andere Informationen in den Abspann aufgenommen werden. Gunda kann allein stehen, aber nur für Menschen, die sich eh bereits mit dem Thema befassen. Es ist ein wunderschönes und würdiges Portrait von Tieren, denen im Alltag sonst jegliche Würde genommen wird. Der Film zeigt uns, wie diese Individuen sich verhalten würden, wenn sie frei wären und wir ihnen Gelegenheit dazu gäben. Er spricht die Zuschauer*innen auf eine andere Art und Weise an als die sehr grafischen und brutalen, aber leider realen Bilder von Earthlings, Dominion und Co. Für mich als Veganerin macht es das fast noch schlimmer. Bedrückend, herzzerreißend, furchtbar - keine Worte können dieses Gefühl beschreiben, sich bewusst zu sein, was in jeder Sekunde mit Lebewesen passiert, die nie ein anderes Verbrechen begangen haben als geboren zu werden.
Vor 75 Jahren wurde Auschwitz befreit und das systematische Morden an den Jüdinnen und Juden hatte endlich ein Ende. In genau diesem Moment werden Schweine in Gaskammern gebracht, weil dies die ”humanste” Methode ist, Schweine zu töten. In diesem Moment rufen Mütter nach ihren Kälbern und wissen intuitiv, dass etwas Furchtbares mit ihnen passiert. Der Wert vom Verkauf ihrer Kinder beträgt nur etwa 15$. Genau jetzt werden männliche Küken geschreddert, weil sie den Fehler gemacht haben, als Männchen zur Welt zu kommen und sie nicht ”profitabel” sind. Ihre Schwestern ziehen das große Los: den Rest ihres kurzen Lebens auf engstem Raum mit anderen Hennen auf Stangen oder in ihren eigenen Exkrementen zu hocken und ein Ei nach dem anderen zu legen, bis sie es wagen, nicht mehr jeden Tag ein Ei zu produzieren und dadurch auch selbst nicht mehr profitabel zu sein.

Ich bringe es nicht über mich, mir auszurechnen, wie vielen Tieren die Kehlen aufgeschlitzt wurden, seit ich angefangen habe, diesen Artikel zu schreiben. Wieviele Kühe, Schweine, Ziegen, Schafe und andere Tierarten mit vor Panik geweiteten Augen das Blut ihrer Artgenossen gerochen haben, die wussten, was es bedeutet und mit all ihrer Kraft ums Überleben gekämpft haben. Sie wissen nicht, dass vom Zeitpunkt ihrer Geburt vorgeschrieben war, wie sie verenden.

Wen von ihnen hast du heute schon gegessen?

Gunda ist ein Film, den jede*r sehen sollte, der oder die Fleisch isst. Wenn man sich wirklich auf den Film einlässt, ist es schwer mit anzusehen. Aber wenn du dazu gehörst, dann solltest du entweder dazu in der Lage sein oder dir ein paar wichtige Fragen stellen.

Ich danke Victor Kossakovsky für diesen bedrückenden, aber so notwendigen Film. Für den Mut, ihn zu drehen und zu zeigen, für den Mut der Berlinale, ihn in das Encounters Programm aufzunehmen. Und ich danke dir, dass du den Mut hattest, diesen ganzen Artikel zu lesen und dich so mit dem Thema zu befassen. Du bist es, der/die den Tieren eine Stimme geben kann. Und es beginnt auf deinem Teller.
01.03.2020, Johanna Gosten

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